#5 Lebst du dein Leben?

Anonym
25. Mai 2020, 18:00 MESZ aktualisiert am 25. Mai 2020, 18:00 MESZ

Ich bin Tamilin. Und ich trinke. Geschockt? Beschämt? Normal?

Okay nochmal. Hallo, ich bin Tamilin und ich genieße mein Leben! Besser?

So oder so, es kommt auf das Gleiche hinaus. Ich führe ein Doppelleben, kann man so sagen. Zuhause bin ich das brave Mädchen, dass studiert, Bharathanatyam und Sangeetham macht und als Tamil Teacher tätig ist. Und dort wo ich studiere, bin ich das alles zwar auch, aber ich mache auch das worauf ich Lust habe. Sei es abends mit den Mädels zu feiern, in die Shishabar zu gehen oder Zuhause gemütlich einen Wein zu trinken. Natürlich gibt es auch Abende, an denen ich mein Limit überschreite und manchmal greife ich zum ein oder anderen Joint. Ob ich mich dafür als tamilisches Mädchen nicht schäme? Absolut nicht. Also klar, anfangs ja, aber es ist mein Leben und ich möchte alles einmal gemacht haben, damit ich a) nichts verpasse und b) später nichts bereue. Denn wenn nicht jetzt, wann dann? Die Zwanziger sind meine besten Jahre und die möchte ich nicht damit verbringen Zuhause zu sitzen und nichts zu tun. Iruvathu vayathil aadaamal, aruvathil aadi enna payan?

Versteht mich nicht falsch, das hier ist kein Aufruf zur Flasche. Als ich noch Zuhause bei meinen Eltern gewohnt habe, habe ich nichts Derartiges gemacht. Ich war mit Freunden bis maximal 19 Uhr unterwegs und auf Partys durfte ich auch nur bis maximal 23 Uhr bleiben. Ich werfe meinen Eltern nichts vor, ich durfte zumindest mehr als viele andere und sie haben mich so erzogen wie sie es für richtig hielten. Ich habe einige Male um ein bisschen mehr Freiheit gekämpft, habe aber schnell verstanden, dass ich gegen eine Mauer rede, die wohl nicht einbrechen wird. Irgendwann war es auch nicht mehr schlimm, aber am nächsten Tag kratzt es dann doch am Ego, wenn man hört was die anderen alles auf der Party um 4 Uhr morgens erlebt haben. Im Gegensatz dazu, habe ich mein Diploma in Dance und Sangeetham gemacht und arbeite dann auch noch jede Woche ehrenamtlich als Tamil Teacher.

Dann aber mache ich mein Abitur und komme an die Uni. Dort lerne ich meine jetzigen besten Freunde kennen. Alles Tamilen. Mit ihnen habe ich meinen ersten Shot getrunken, meinen ersten Absturz gehabt und auch an meinem ersten Joint gezogen. Mein Leben hat sich schlagartig geändert. Ob ich mitgelaufen bin, um dazu zu gehören? Anfangs, vielleicht. Und wenn ich die Chance hätte es wieder rückgängig zu machen, würde ich diese Chance wahrnehmen? Niemals. Vielleicht war es nicht der richtige Weg oder der richtige Start, vielleicht habe ich mich mitreißen lassen. Aber so läuft das manchmal im Leben. Meine Freunde haben mich nie zu etwas gezwungen, aber ich wollte so gerne alles erleben, was mir all die Jahre verwehrt gewesen ist. Ich wollte unbedingt alles nachholen, was ich die Jahre in meiner Abizeit verpasst habe. Also habe ich mich getraut. Am Anfang habe ich viel nachgedacht. Was machst du? Warum machst du das? Was sagen Amma und Appa dazu? Dann ist mir aufgefallen, dass meine Eltern nie etwas davon erfahren müssen. Sie würden es nicht verstehen, was auch okay ist, ich möchte auch nicht mit ihnen darüber reden.

Aber warum ist das so? Warum müssen tamilische Kinder so ein Doppelleben führen? Warum muss man seine Eltern anlügen? Meine Eltern anzulügen war schon echt hart. Ich meine, ich habe sie nicht direkt angelogen, ich habe nur den Part mit dem Alkohol ausgelassen. Aber mir bleibt auch nichts anderes übrig, wenn ich weiterhin meinen Spaß haben will. Das klingt hart und egoistisch und das ist es auch. Unsere Eltern sind anders aufgewachsen, leben nach anderen Werten und nach einer anderen Moral. Hier ist das Leben anders. Ich habe das Gefühl, dass man als Außenseiter gilt, wenn man keinen Alkohol trinkt. Wie ich bereits sagte, anfangs ging es mir darum, dass ich dazu gehören wollte, aber ich habe schnell gemerkt, wie viel lockerer und entspannter ich auf Partys bin und wie sich der Spaßfaktor nahezu verdoppelt hat. Warum also sollte ich nicht meinen Spaß haben? Weil ich tamilische Wurzeln habe? Weil ich eine Frau bin und mich auch so benehmen sollte? Das ist diskriminierend und sexistisch. Wir leben im 21. Jahrhundert und vor allem hier in Deutschland hat jeder die Chance sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hält. Und das macht mich weder weniger tamilisch, noch macht mich das weniger weiblich.

Letztes Jahr habe ich meinen Geburtstag gefeiert. Meine erste große Party. Ich brauchte Alkohol für die 50 Gäste und eine unvergessliche Nacht. Aber wie sollte ich die ganzen Getränke vom Getränkeshop bis zu meiner Wohnung transportieren? Ich brauchte ein Auto, dass weder ich noch meine Freunde hatten. Also fragte ich meine Eltern. Ich ging also zu ihnen und erklärte ihnen, dass ich viele Deutsche eingeladen hätte- ich bräuchte also den Wagen, um die alkoholischen Getränke zu transportieren. Zugegeben, das grenzt vielleicht an Rassismus. Mein Plan ging allerdings nicht ganz so auf, wie ich mir das vorgestellt hatte. Appa schlug mir den Plan vor, dass er mir doch helfen könne und wir den Alkohol gemeinsam in meine Wohnung tragen könnten. Er ging davon aus, dass ich für meine 10 deutschen Gäste 3 Kästen Bier holen wollte. Allerdings fing meine Liste beim Bier erst an, ging dann weiter mit Gin, Hugo, Rum, Schnaps, Tequila, Whiskey und endete dann beim Wodka. Ich schlug ihm also mit Nachdruck vor, dass ich das lieber mit meinen Freunden mache, dass ich seine Hilfe also nicht bräuchte. Meine Mutter mischte sich ein und fragte was ich alles holen wolle, dass ich so ein Theater mache. Ich lief rot an und fing an zu stammeln. Lügen ist nicht meine Stärke. Aber zu meiner Überraschung fingen meine Eltern an zu grinsen, und meinten, dass sie wissen, dass ich nicht nur Bier holen würde. Ich war verwirrt, lachte nur nervös und verschwand in mein Zimmer.

Das letzte Wochenende vor der Party verbrachte ich Zuhause bei meinen Eltern und Geschwistern. Alles verlief wie gewohnt, das Essen war super, wir lachten und stritten viel, aber das Wichtigste war, dass wir eine Familie waren. Als Amma meine Schwester und mich dann wie gewohnt am Sonntagabend zum Bahnhof fuhr und uns zum Abschied umarmte, meinte sie mit einem Lachen im Gesicht, dass wir bloß nicht zu viel trinken sollen, aber wir trotzdem unseren Spaß haben sollen. Mit diesen Worten fuhr sie davon. Was? Amma wusste alles? Und wenn sie alles wusste, dann wusste Appa auch alles? Und das war ihre Reaktion darauf? Hatte ich irgendetwas verpasst?

Den ganzen Abend lang, überlegten meine Schwester und ich, seit wann unsere Eltern das wussten und wieso sie so cool damit sind. Zumal meine Schwester das Thema „Alkohol“ vor einigen Jahren schon einmal angesprochen hatte. Damals war die Reaktion meines Vaters noch sehr wütend und er verbat es meiner Schwester. Aber was ist in diesen 2 Jahren passiert? Vielleicht ist es die Tatsache, dass wir in unserer Jugend gut in der Schule waren, unseren Abschluss gemacht haben und jetzt studieren. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass wir dort, wo wir wohnen, alles machen können und dürfen, aber nichts davon mit nach Hause bringen. Vielleicht akzeptieren meine Eltern auch einfach, dass wir erwachsen werden und unsere eigenen Erfahrungen machen müssen. Immerhin meinte meine Mutter einmal, dass unsere Generation es am schlimmsten hat, da wir die erste Generation sind die zwischen den Kulturen aufwachsen, die 100% der tamilischen Kultur durch die Elterngeneration erfährt und 100% der westlichen Kultur durch die Schule und die Freunde erfährt. Ich weiß bis heute nicht, warum meine Eltern mir diese Freiheit ausgerechnet jetzt geschenkt haben. Was ich weiß ist, dass ich ihnen dafür sehr dankbar bin und, dass ich es sehr zu schätzen weiß, dass sie mich so erziehen, wie sie es für richtig halten. Denn das ist es, was mich zu dem Menschen macht, der ich heute bin. Ich bin das Produkt, der Erziehung meiner Eltern und dieser Prozess wird niemals enden. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meinen Eltern und bin ihnen sehr dankbar für all die Regeln und Grenzen, die ich auferlegt bekam.

Aber noch einmal zu Tamilen im Generellen. Der Grund warum ich diesen Artikel anonym verfasse und meinen Namen nicht preisgebe ist genau der Grund, dass ich nicht will, dass Tamilen über mich reden. Ich habe Angst, dass irgendjemand schlecht über meine Eltern redet, dass sie meine Eltern verurteilen für die Erfahrungen, die ich machte. Denn leider Gottes, können das Tamilen sehr gut. Nein, eigentlich ist das falsch. Jede Nation redet, es sind nur einige Individuen, die schnell glauben lassen, dass eine ganze Ethnie einen einzigen Charakterzug trägt. Ich habe schon einige kritische Blicke abbekommen, meist von jungen tamilischen Männern, die missbilligen, wie und was ich mache. Auch habe ich mitbekommen, wie einige sich aufgeregt haben, wie ich feiere und Alkohol trinken kann, obwohl ich Tamil Teacher bin. Der Grund ist ganz einfach, mein Privatleben ist mein Privatleben und das lebe ich nicht vor meiner Klasse aus. Ich bin eine gute Lehrerin und bin mir meiner Vorbildfunktion sehr wohl bewusst. Aber wer hat gesagt, dass eine Lehrerin, die ihren Spaß hat, keine gute Lehrerin ist? Diese Individuen, von denen ich spreche, sollten sich bewusst machen, dass ich im Reinen mit mir bin und ich nichts bereue, was ich je getan habe. Ich bin absolut glücklich mit meinem Leben, und werde auch weiterhin alles tun, was ich für richtig halte. Alles was ich mache, schadet niemandem, ich tue es für mich selbst und ich werde es auch weiterhin machen. Obgleich ich dann manchmal die falsche Entscheidung treffe oder etwas tue, was nicht der Norm entspricht, es bleibt mein Leben, meine Entscheidung und letzten Endes meine Erfahrung und dieses Recht lasse ich mir von niemandem nehmen.

Disclaimer:
Die verfassten Beiträge in dieser Blogreihe werden, beruhend auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, verfasst. Die persönlichen Umstände und das persönliche Umfeld spielen dementsprechend eine große Rolle. Somit präsentieren die Artikel nur persönliche Ansichten und möglicherweise auch Lösungsansätze, die nicht auf alle übertragbar sind. Keinesfalls wollen wir implizieren, dass dies die einzig korrekte Sichtweise auf das entsprechende Thema ist oder jemanden damit angreifen. Wir sind dankbar für jedes Feedback und für jede Kritik und respektieren eure geäußerten Meinungen. Ihr könnt gerne eigene Beiträge verfassen und uns zukommen lassen, um auch eure Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.

Euer ITSA-Team

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