#7 Samathiavidu

Anonym
02. Juni 2020, 13:00 MESZ aktualisiert am 02. Juni 2020, 13:00 MESZ

Es ist das Jahr 2006. Ich bin 11 Jahre alt und habe meine Periode bekommen. Eigentlich nichts Wildes, in der Schule lernt man, dass es völlig normal ist und man ab sofort jeden Monat eine Blutung haben wird. Die meisten Eltern besorgen also Binden oder Tampons für ihre Töchter und das Leben geht wie gewohnt weiter. 

Aber bei uns Tamilen ist das nicht so – man hat seine Periode? Halt! Keine Bewegung. Es gibt einige Maßnahmen, die getroffen werden müssen.
Schritt 1: Der Hausarrest beginnt, die Schule lässt man erstmal für eine Woche sausen und auch der Sportunterricht wird für die nächsten Wochen entschuldigt – obwohl man eigentlich fit genug ist. 

Schritt 2: Alle Verwandten und Freunde werden angerufen und die „frohe Botschaft“ verkündet – egal wie peinlich es dir auch ist.
Schritt 3: Ab jetzt gibt es spezielles Essen und spezielle Getränke, die mit einfachen Hausmitteln zubereitet werden – Ciao Pizza und Burger. 

Schritt 4: Die engsten Verwandten und Bekannten kommen vorbei, du setzt dich in eine Badewanne und wirst von allen mit Wasser begossen – Ja, richtig gehört, andere Leute BADEN dich.
So skurril es für andere auch klingen mag– so läuft das bei uns und das ist gerade mal der Anfang, denn es gibt noch einen 5. Schritt. 

So gut wie jedes Mädchen, das ihre Tage bekommen hat, bekommt eine Feier, das sogenannte „Samathiavidu“ (Pubertätszeremonie).
Ich möchte euch hier meine Geschichte erzählen, die ein oder andere findet sich bestimmt selbst darin wieder. 

Ich habe also 2006 mit knapp 11 Jahren meine Tage bekommen, im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen habe ich es Zuhause aber verschwiegen. Warum? Ich habe eine ältere Schwester, das heißt ich habe das gesamte Prozedere mitbekommen und ich war einfach nicht bereit dafür. Ich war jung und ich war jeden Tag draußen spielen und habe meine Kindheit in vollen Zügen genossen. Das wollte ich nicht aufgeben nur wegen einer blöden Blutung. 

Natürlich blieb es nicht lange geheim, als meine Mutter die Wäsche machte, hat sie schnell bemerkt, dass ich ihr etwas verheimliche. Ich war zu dem Zeitpunkt bei Freunden und wurde plötzlich angerufen, dass ich jetzt sofort von einem Bekannten abgeholt werde und nach Hause kommen muss. Ich konnte mir schon denken was passiert war. Zuhause angekommen, gab es keinen Ärger, meine Mutter fand es eher witzig, dass ich nichts gesagt habe. Für mich war die Situation alles andere als witzig. Ich habe angefangen zu weinen und meiner Mutter gesagt, dass ich das alles nicht will und viel zu jung dafür bin. Meine Trauer konnte meine Mutter mir aber leider nicht nehmen, denn es ist der Lauf der Natur und ich konnte nichts dagegen machen. Zum Glück war ich nicht das erste Mädchen aus der Klasse, sodass mir meine Freundinnen beistanden und mir viel Trost gespendet haben. 

Da diese Situation für mich sehr belastend war und ich meine Freiheiten und mein Lieblingsessen nicht aufgeben wollte, hat meine Mutter bei mir ein Auge zugedrückt– manchmal auch zwei. Ich musste also nicht alle „komischen“ Sachen essen und durfte sogar ab und zu rausgehen. 

Nachdem das Ganze bei mir weitaus dramatischer abgelaufen ist als bei den meisten anderen wurde mein Samathiavidu erst ein Jahr später gefeiert. Ich wollte diese Feier nicht, denn mir war es peinlich vorne zu stehen, wo alle mich beobachten konnten. Jeder im Raum 

wusste nun, dass ich jeden Monat blute. Als 12-Jährige der absolute Horror. Ich wurde an diesem Tag extra geschminkt von einer Bekannten, die dafür sogar Geld bekommen hat. Als ich an der Halle für die Feier ankam, sagten mir alle, dass ich schön aussehe, wie eine Prinzessin. Aber ich habe mich nicht wie eine gefühlt. Ich habe mich so fremd gefühlt. Mit meinen 12 Jahren bestand meine Make-up Routine aus einem Kajalstift und lila Lidschatten, der gerade mal die Busfahrt zur Schule überstanden hatte, bis er komplett verschwunden war. Aber plötzlich hat man mir Foundation ins Gesicht gemacht, Kajal, Eyeliner, Wimperntusche, Rouge, Lippenstift – das volle Programm. Aus meinen kurzen schulterlangen Haaren wurde ein langer, streng geflochtener Zopf, der über meinen Po ging. Aus meinen Shorts und meinem T-Shirt wurde ein ungemütlicher Saree, bei dem ich auf jede Kleinigkeit achten musste und in dem ich mich kaum normal bewegen konnte. Und dann noch der erste BH darunter– natürlich kein schöner runder BH, wie man ihn kennt. Nope, es wurde ein BH aus Sri Lanka der so spitz zulief, dass man sich ernsthafte Verletzungen hätte zuziehen können. Immerhin musste meiner nicht ausgestopft werden, das erste Highlight an diesem Tag. 

Ich sah also aus wie ein fremder Mensch, wie eine tamilische Puppe und kam zur Halle. Man steht vorne, während die Gäste an ihren Tischen sitzen, reden und essen. Viel hab ich davon nicht mitbekommen, denn die Kameralichter haben mich so geblendet, dass ich kaum etwas sehen konnte. Ab da werden Rituale vollzogen, dafür werden Mädchen von jung bis alt auserkoren. Ich denke ich spreche für alle Mädels, wenn ich sage, dass das der einzige Moment ist, indem man sich wünscht seine Tage zu haben. Denn wenn das der Fall ist, wird man von den Ritualen ausgeschlossen. 

Man bekommt als Mädchen im Alter ab 14 Jahren die sogenannten Kutthuvilakus. Die Dinger sind einfach nur nervig. Andauernd geht die Flamme aus, das Öl läuft runter und wichtig: du musst aufpassen, dass du niemandem die Haare abfackelst. Und noch wichtiger: du musst aufpassen, dass niemand dir die Haare abfackelt. Früher war es damit auch erledigt. Man geht dann nach vorne, stellt die Vilakkus ab und geht wieder. Heutzutage wird von einem aber alles abverlangt und ganze Choreos entstehen auf der Bühne. Wer dachte, dass 1 Minute Plank anstrengend ist, der musste noch nie auf der Bühne in tamilischer Kleidung mit Vilakku in der Hand in der Hocke sitzen bleiben bis der Videograph jeden einmal gefilmt hat– es ist einfach ein anderer Schmerz. Dass die ganzen Gäste einen dabei auch noch beobachten, ist eines der kleineren Übel. 

Denn als Mädchen auf der Bühne, fand ich es immer noch am schlimmsten. Denn der schlimmste Part ist, dass man gefühlt den ganzen Tag auf der Bühne steht und vom Spaß der Gäste gar nichts mitbekommt. Sobald das Essen serviert wurde beginnt der eigentliche Kampf, der Wettlauf. Die Gäste kommen nämlich meistens aus einem Pflichtgefühl heraus und wollen diese Pflicht so schnell es geht erfüllen. Das heißt also, dass sich nach dem Essen alle anfangen vor die Bühne zu stellen, es entsteht eine riesige Schlange und alle wollen unbedingt ein Foto mit dir machen. Du könntest dich fühlen wie Beyoncé, wir wissen aber alle, dass es den Leuten nicht wirklich um dieses Bild mit dir geht, sondern einfach nur darum einen Umschlag mit Geld abzugeben. Danach kann man in Frieden nach Hause. Diese Foto-Situation bringt aber immer viel Ärger mit sich. Die Gäste werden ungeduldig, alle wollen nach Hause, obwohl Zuhause nichts auf sie wartet. Deine Eltern haben viel Geld investiert und wollen, dass du noch ein zweites und vielleicht sogar drittes Outfit anziehst. Das kostet Zeit und Nerven. Spätestens wenn deine Eltern dich von der Bühne holen wollen, kommen die ersten Beschwerden „Können wir bitte noch schnell ein Bild machen, bevor sie sich umzieht? Wir müssen ganz dringend los, Umziehen dauert jetzt viel zu lang“, Ausreden über Ausreden. Man wird also umgezogen und kommt zurück zur Bühne zu den genervten 

Gästen. Wenn es nicht gerade Freunde oder Verwandte sind, reden die Leute auch nicht mit dir. Eigentlich bist du da ziemlich egal, hauptsache der Umschlag erreicht deine Hand und dein Gesicht ist auf dem Bild. Nach der Foto-Eskalation ist man aber immer noch nicht fertig. Ab da hatte ich das peinlichste Shooting meines Lebens. Trotz der verbliebenen Gäste sollte ich meinen Rock anheben und auf der Stelle rumhüpfen und dabei lachen, damit der Fotograph es mit seinen 2006-Photoshop-Skills so aussehen lassen konnte, als würde ich in einem See herumspringen mit einem riesigen Gebirge im Hintergrund. Das Gelächter der anderen blieb nicht aus. Danach ging es weiter mit einem Outdoor-Shooting. Ihr könnt euch das Shooting wie ein Hochzeitsshooting vorstellen, nur ohne Mann. Bei mir wurde der Mann zeitweise durch einen Baum ersetzt. Ich sollte den Baum umarmen und um ihn herumtanzen. Die reinste Katastrophe für mich. 

Obwohl der Tag absolut nichts für mich war, gab es aber auch Dinge, für die ich trotzdem dankbar bin, denn ein Samathiavidu bringt auch durchaus positive Dinge mit sich. Meine ganze Familie hat sich dafür versammelt. Egal aus welchem Kontinent, niemandem war der Weg zu weit oder die Fahrt zu teuer. Die Zeit mit der Familie war sehr schön, denn wann kommen auch mal alle zusammen? Tamilische Familien sind immer weltweit verteilt und zu solchen Anlässen sieht man sich endlich wieder. Und von meinen deutschen Freunden konnte niemand behaupten, dass die Tante extra aus Kanada kam, nur weil man seine Periode bekommen hat. 

Alles in Allem ist es aber natürlich meine persönliche Erfahrung, ich weiß, dass gerade die jetzige Generation ganz anders mit dem Thema umgeht. Die einen Mädchen freuen sich, dass sie geschminkt werden, schöne Kleider tragen können und ein Shooting machen dürfen, die anderen sagen ihren Eltern, dass sie das Geld lieber in ein Auto investieren sollen, weil es einen Mehrwert hat. Für mich ist es rückblickend einfach nur eine lustige Erinnerung, die ich niemals vergessen werde. 

Ich habe auch viel daraus gelernt und für mich entschieden, dass ich für meine Kinder nicht eine solche Feier ausrichten werde. Für mich hat es keinen tiefergehenden Wert erfüllt. Die wichtigen Rituale, die man abhalten soll, kann ich auch Zuhause im engsten Kreis abhalten. Dafür muss ich nicht mehrere Hunderte Leute einladen, die sich eh nicht für mein Kind interessieren, wahrscheinlich nicht mal deren Namen kennen und nach dem Essen ganz schnell nach Hause sprinten wollten. 

Das ist wohl einfach eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss, man sollte aber nicht vergessen, die Meinung der anderen dennoch zu respektieren.
Ich selbst bin super gespannt, ob es in Zukunft noch viele Samathiavidus geben wird oder ob diese Tradition mit der Zeit „aussterben“ wird. Was denkt ihr? 

Disclaimer:
Die verfassten Beiträge in dieser Blogreihe werden, beruhend auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, verfasst. Die persönlichen Umstände und das persönliche Umfeld spielen dementsprechend eine große Rolle. Somit präsentieren die Artikel nur persönliche Ansichten und möglicherweise auch Lösungsansätze, die nicht auf alle übertragbar sind. Keinesfalls wollen wir implizieren, dass dies die einzig korrekte Sichtweise auf das entsprechende Thema ist oder jemanden damit angreifen. Wir sind dankbar für jedes Feedback und für jede Kritik und respektieren eure geäußerten Meinungen. Ihr könnt gerne eigene Beiträge verfassen und uns zukommen lassen, um auch eure Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.

Euer ITSA-Team

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