#1 Kindheit und Jugend

Arunjah Ketheeswaran
02. Juni 2021, 14:30 MESZ aktualisiert am 02. Juni 2021, 14:30 MESZ

Geschlechterrollen gibt es in jeder Kultur. Bereits Babys und Kleinkinder unterliegen einem strengen Verhaltenscodex. ´Typisch männliche´ Eigenschaften sind nachdem beispielsweise das Interesse an Technik, Fußball, Mangel an Emotionen, Stärke; als ´typisch weiblich´ dagegen gelten das Interesse an Tanzen, Ordnung im Haushalt, voller Temperament und Familienorientierung.

In der tamilischen Gemeinschaft aber sind Geschlechterbeziehungen – vor allem die Stellung von Frauen meistens eine strittige Angelegenheit. Aber warum ist das so?

Im Jugendalter kannte ich durch Tamilalayam eine Mitschülerin, die Mridhangam spielte. Ich war sehr fasziniert von dem Instrument und wollte es ebenfalls ausprobieren. Später erzählte ich meinen Eltern von meinem Plan. Beide waren dagegen. Sie sagten: „Athu Jungs thaan adikirathu“ (dt. „Nur Jungs spielen das Instrument). Damals hatte ich keine andere Wahl als die Entscheidung meiner Eltern zu akzeptieren, doch mittlerweile weiß ich, dass deren Entschluss auf Geschlechter Stereotypen basiert. Die Macht der Stereotypen setzte sich von Jahr zu Jahr nur weiter durch und schränkte uns Kinder ein. Während es bei unserem Bruder keine Rolle spielte, wie lang seine Shorts waren, existierten Wörter wie „Shorts“ und „Frauen“ bei meiner Schwester und mir nicht in einem Satz und unser Kleidungsstil wurde immer mehr zum Thema. In Fragen wie „Was sollen wir studieren?“ „Wie soll ich mich kleiden?“ „Wie lang soll der Haarschnitt werden?“ „Wie bereitet man den perfekten `Paal Tea` für Gäste zu?“ wurden wir zu Marionetten. Fremdgesteuert. Durch Geschlechterklischees.

Angefangen bei oberflächlichen Dingen, breitete sich diese Barriere aus – bis hin zum Studium. Nachdem ich meine Zusage in München auf schwarz-weiß hatte, griff meine Mama zum Telefon und fing an nachzufragen, wer von unseren Verwandten in München lebt. Tatsächlich hat Mama eine Cousine 4. Grades, die mit ihrer Familie in München lebt. In den nächsten Tagen war alles arrangiert und ich zog aus – oder auch nicht, denn schließlich war ich ja wieder von Familie umgeben. Sicherlich war es am Anfang nur als Stütze gedacht, aber so richtig wie auf eigenen Beinen zu stehen, hat es sich nicht angefühlt. Eher im Gegenteil. Ich wusste nicht, wo ich stehe.

Natürlich bin ich meiner Verwandtschaft für alles dankbar. Ich habe mich sehr willkommen gefühlt und es hat mir an nichts gefehlt. Aber genau DAS war mein Problem.

Stellt euch mal vor – Ihr steht als 18-Jährige/r vor einer neuen Herausforderung, vor einem Neuanfang aller Dinge, wollt neue Bekanntschaften knüpfen, die eure Laufbahn in den kommenden Jahren beeinflussen werden und einfach mal das tun, worauf man gerade Lust hat, ohne dass dann die eigenen Eltern die persönlichen Entscheidungen hinterfragen. Aber fühlt euch dann doch verpflichtet, mitzuteilen, warum es wann zu spät wurde. Ich habe mich wieder wie ein Kind gefühlt. Meine Eltern haben es nur gut gemeint, ohne Frage. Ich kann mir vorstellen, dass es für die Eltern – sei es tamilisch oder deutsch – nicht einfach ist, das älteste Kind das Elternhaus verlassen zu sehen. Die Eltern wollen doch nur, dass man in sicheren Händen ist.

Aber ich wollte unabhängig sein, Entscheidungen treffen, Fehler machen. Einfach gesagt: Hinfallen, Aufstehen, Krone richten und weitergehen. Das war in den ersten drei Semestern, bis ich in meine jetzige WG gezogen bin, nicht möglich.

Hätten meine Eltern anders gehandelt, wenn ich ein Mann wäre? Ich sah bei meinem Bruder keine Probleme, als er beschoss fürs Studium auszuziehen. Also ja – ich war im Nachteil.

Auch wenn unsere Eltern mit unseren Entscheidungen einverstanden wären, bleiben da Fragen wie, „Was denken die anderen, wenn du dies und das als Frau tust?“, „Wie wirst du so einen Partner finden?“ noch offen, denn wie wir alle wissen, ist die soziale Kontrolle in der tamilischen Gesellschaft sehr stark ausgeprägt.

Diese Fragen beeinflussen die eigene Entfaltung sehr. Man fühlt sich wie in einem Hamsterrad gefangen. War es im Studium einfacher? Absolut nicht – auch im Studium ging es nicht ganz klischeefrei zu. 

Als es um die Wahl meines Schwerpunkts im Studium ging, wurde mir immer wieder geraten, mich für Steuerrecht zu entscheiden, weil im Steuerrecht die meisten Fälle nicht vor Gericht gehen und ich dementsprechend später Karriere und Kind unter einen Hut bringen können würde. Aber ist es wirklich so? Bestimmen Stereotypen tatsächlich was ich kann und was nicht?

Vieles nehmen wir auch durch Beobachten mit: Wenn sich zum Beispiel in einer Familie die Mutter vorwiegend um familiäre Innenaktivitäten sprich um Haushalt und Kinder kümmert, der Vater hingegen in erster Linie arbeiten geht und die Familie finanziell versorgt, dann prägen wir uns diese Rollenverteilung ein und ahmen sie nach. In der Generation unserer Eltern war es nicht anders – wenn, dann radikaler. Besonders das weibliche Geschlecht wurde durch die äußeren Bedingungen eingeschränkt und wurden Opfer sozialer Rückständigkeit. Damals folgte man einer sehr patriarchalen Gesellschaftsordnung und befolgte die entsprechenden Konventionen, unter anderem auch die Unterordnung von Frauen. Aus der Sicht der älteren Generationen waren Frauen zwischen der Zeit der Pubertät und Heirat besonders verletzbar und schutzbedürftig. Einen Beruf als Frau auszuüben, war ihnen dementsprechend unzumutbar. Daher bestand ihre Aufgabe nur darin, eine Familie zu gründen, eine gute und gehorsame Ehefrau zu sein und Söhne zu gebären, die den Familiennamen weiterführen und später als Altersvorsorge gefördert wurden. Das der Mann im Haushalt mithilft, wurde von ihnen weder erbracht und noch erwartet. Auch wir kennen das aus unserem Alltag.

Wenn Gäste nach Hause kommen, steht der ganze Haushalt typischerweise auf den Kopf. Und unsere Mütter mit. Die gewohnte Haushaltsführung bekommt nochmal eine ganz neue Seite zu erleben. Von Grund auf wird alles neu strukturiert, man wacht wortwörtlich in einer neuen Wohnung auf. Der Höhepunkt natürlich ist das Zubereiten und Servieren von Speisen. Normalerweise sitzen alle gemeinsam am Tisch, bedienen sich nach Belieben und schafft in dem Sinne durch gute und aufmerksame Gespräche eine Bindung. In unserer Gesellschaft wird auch das anders angegangen. Die Gastgeberin serviert den Gästen das Essen und erst nachdem alle fertig mit dem Verzehr sind, setzt sie sich zu Tisch. Meistens gehen ihr die weiblichen Gäste zur Hand, aber von den Männern wird dies nicht erwartet. Im eigenen Haushalt wird die Frau zur Servicekraft. Was einst, vor Jahren als „Schutzmechanismus“ dienen sollte, hatte von Anfang an gravierende Folgen für die Entwicklung der Frauen.

Das heißt aber nicht, dass es keine Fortschritte in der Emanzipation der Frauen gibt. Ich bin der Meinung, dass die Denkweise von Generation zu Generation fortschrittlicher und offener wird als die vorherige. Die Einstellung gegenüber der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern sind in den vergangenen Jahren zunehmend gleichstellend geworden. Was einst unmöglich war für Frauen, wie z.B. das Aufbauen der Karriere, wird heute als Selbstverständlichkeit angesehen. Auch die Kommunikation mit den Eltern kann schon in den meisten Fällen ausreichen. Unsere Eltern, aufgewachsen in einem autoritären Regime, sind in ein fremdes Land geflohen, ohne die Sprache zu beherrschen – erst recht, ohne zu wissen, inwiefern das Land sie aufnehmen, oder auch ob es sie überhaupt aufnehmen wird. Sie mussten sich in einem neuen Kulturraum zurechtfinden, die zum größten Teil im Gegensatz zu den eigenen Vorstellungen und Wertesystem stehen, da ist der Kulturschock mehr als berechtigt.

Unsere Aufgabe als Übergangsgeneration ist es, die Eltern zu erziehen und zu erklären, dass Diversität keine Bedrohung, sondern als Ressource gesehen werden muss.  

Wie sagt man so schön: „Rom wurde nicht an einem Tag gebaut“.

Disclaimer:
Die verfassten Beiträge in dieser Blogreihe werden, beruhend auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, verfasst. Die persönlichen Umstände und das persönliche Umfeld spielen dementsprechend eine große Rolle. Somit präsentieren die Artikel nur persönliche Ansichten und möglicherweise auch Lösungsansätze, die nicht auf alle übertragbar sind. Keinesfalls wollen wir implizieren, dass dies die einzig korrekte Sichtweise auf das entsprechende Thema ist oder jemanden damit angreifen. Wir sind dankbar für jedes Feedback und für jede Kritik und respektieren eure geäußerten Meinungen. Ihr könnt gerne eigene Beiträge verfassen und uns zukommen lassen, um auch eure Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.

Euer ITSA-Team

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