#14 Wenn zwei Kulturen aufeinander treffen

Anonym
01. Juli 2020, 19:26 MESZ aktualisiert am 01. Juli 2020, 19:26 MESZ

Du und ich – Wir tragen die Geister unserer Vergangenheit in uns. Es wäre mir eine Freude, wenn du mit mir einen Blick in den Rückspiegel werfen würdest. Lass uns gemeinsam reisen und die Geschichten dreier Seelen durchleben. Sie sind geprägt von Schmerz und Verwirrtheit, aber auch von Freude und Stolz. Integration, die Beziehung zweier Kulturen und das kulturelle Erbe – Sie wiegen schwer auf unserem Haupt und begegnen uns schon im Kindesalter. Komm, reich mir deine Hand und lass uns etwas essen gehen…

Das erste Abendessen.

Sie ist auf dem Weg zu ihrer Nachbarsfreundin. Ines hatte sie zum Abendbrot bei ihrer Familie eingeladen. Pünktlich um 18:00 Uhr steht sie auf der Matte. Ihre Mutter hat Pizzabrötchen, Pommes und einen Salat dazu gemacht. Sie ist recht schnell mit dem Essen fertig, weil sie sich nicht so viel genommen hat. Von Zuhause und Besuchen bei Verwandten weiß sie, dass es sowieso Nachschlag geben würde. Ein Nein kannte man nicht. Ihr Blick hängt bereits an den Wellenschnitt Pommes, die sie so gerne mag. Als Ines‘ Mutter fragt, ob sie noch etwas haben möchte, lehnt sie zunächst ab – so wie Zuhause auch. Sie freut sich schon auf das Essen, wenn die zweite Nachfrage kommt, als ihr Gesicht jäh zerfällt und ihr Herz in die Hose rutscht. Die Mutter nimmt ihr Nein mit einem Schulterzucken entgegen und fragt die anderen am Tisch. Sie hat eigentlich noch Hunger. Sie ist verwirrt und fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Was ist gerade passiert? Was hat sie verpasst? – Es verfolgt sie bis zum nächsten Abendbrot bei ihrer Nachbarsfreundin.

 

Der erste Geburtstag.

Der Klassenraum war am Ende des Flurs. Nervös ging er darauf zu. Er wollte da nicht rein. Anlässlich zu seinem Geburtstag hat seine Mutter ihn in ein Outfit aus dem Tamilladen gesteckt – blau, mit Schal und verziert mit goldenen Ornamenten und nicht zu vergessen, das gelbe Pottu und Thirunuru auf der Stirn. Er war ausgestattet mit Karamelbonbons – solchen, die man auch so ähnlich zum Karneval bekommt und Haribo Starmix – vor allem die Gummispiegeleier, die waren der Renner, sowie zwei Thattus (kl. Tablett). Es war Tradition an der Schule, wenn man Geburtstag hatte, allen Mitschülern Süßigkeiten zu geben. Er ging zu seinem Platz, wohlwissend die Blicke der Mitschüler zu spüren. „Abwarten, später gibt es Süßigkeiten“, ermahnte er sich. Kurz vorm Ende der Schulstunde bereitete er die Süßigkeiten auf den Thattus vor. Damit ging er um die Tische. Als ein Mitschüler fragte, wie viele man sich nehmen dürfte, dachte er an die Worte seiner Mutter zurück: „ Jeder darf so viel nehmen wie man will. Es ist dein Geburtstag, da kannst du großzügig sein“ und gab ihre Worte zurück. Nach 5 Mitschülern waren die Haribos leer, die Karamellbonbons lagen unberührt und unbeachtet auf dem Thattu und 10 Mitschüler gingen leer aus. Er fühlte sich grässlich. Was hatte er falsches getan, dass es so weit gekommen war? Seiner Mutter gab er die ganze Schuld und fragte, wie sie ihm das antun konnte. – Er war das Gespräch des Tages in der Klasse.

 

Die Kulturstunde.

Sie wurde angefragt, ob sie nicht in einer 4. Klasse an einer Grundschule als Referentin eine Unterrichtsstunde leiten könne. Thema waren Sri Lanka und die Kultur – Sie ist Tamilin und daher als Experte perfekt geeignet über ihre Kultur und aus ihrem Leben zu erzählen. Die Kinder schauten sie neugierig an, als sie mit Punjabi und einem Korb, gefüllt mit tamilischen Büchern, Lehrmaterial, Kleidungsstücken und Schmuck hereinkam. Nach einer kurzen Vorstellung vom Lehrer, begann sie zu erzählen. Sie erzählte, wo Sri Lanka lag, welche Sprachen dort gesprochen werden, was und wie die Kinder an den Schulen lernen und welche Kleidung getragen wird. Dabei ließ sie die mitgebrachten Sachen an den Tischen herumgehen. Aufgeregtes Gemurmel war zu hören und neugierige Blicke beobachteten sie. Anschließend hat sie Fragen beantwortet. Die Kinder haben sie wortwörtlich durchlöchert. Sie wollten wissen, warum wir mit Händen essen und die linke Hand dabei verboten ist, warum die Kuh heilig ist und warum wir so viele Götter haben. Zum Ende der Unterrichtsstunde bekamen alle Mädchen Schmuck geschenkt und die Jungen bekamen kleine Tamilheftchen. Es war ihr eine Freude, die Unterrichtstunde gehalten zu haben und war stolz auf sich. Was die Kinder alles gelernt haben? Was habe ich bewirkt bzw. was werden die Kinder bewirken? – Sie verließ den Unterrichtsraum mit einem Lächeln und Lob von der Schulleitung.

 

Was glaubst du, wie es den drei Seelen heute geht? Was sie wohl aus ihren eigenen Erfahrungen gelernt haben? Was ist mit dem Umfeld? Die drei Lebensgeschichten zeigen nur einen Bruchteil dessen, was du oder andere vielleicht erfahren haben, als ihr zwischen der tamilischen und der deutschen Kultur aufgewachsen seid. Vielleicht erkennt sich da sogar jemand wieder. Was du und ich auf jeden Fall kennen – wir haben eine Sonderabteilung in unserem Schrank – eine Hälfte ist mit deutschen Sachen gefüllt, während die andere Hälfte voll ist mit Punjabis, Schmuck und Sarees oder Anzügen und Vetis. Wir kennen den Struggle bei Lieblingsessen, Rolls vs. Kottu rotti, Schnitzel vs. Burger oder Eistee vs. Sarbath.

So ist auch unser Leben. Von klein auf werden wir mit beiden Kulturen groß und werden oft Situationen ausgesetzt, die im ersten Moment verwirrend und komisch sind. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass es Erstgeborene schwerer haben, da sie kaum jemanden um Rat fragen können. Die Eltern kennen oftmals deutsche Gepflogenheiten nicht und stehen er im Weg als das sie helfen können. Durch Hinterfragen und Ausfragen von meinen Freunden und Eltern, musste ich diese Herausforderungen allein bewältigen. Ich habe die Situationen analysiert und geschaut, aus welchen kulturellen Gründen es zu den Missverständnissen und Problemen kam und wie man sie in Zukunft vermeiden kann. Ich habe dadurch ein Gefühl bekommen, was ich an welcher Kultur schätze, was ich kritisch betrachte und habe das in mein Leben integriert. Meine jüngeren Geschwister hatten es hingegen leichter, da unsere Eltern durch mich mehr über die deutsche Kultur gelernt haben und ich von meinen Erfahrungen erzählen konnte. Kommunikation, Empathie und das Interesse an der anderen Kultur sind meiner Meinung nach der Schlüssel, für ein gutes Kulturverständnis und eine gute Persönlichkeitsentwicklung. Trotz aller Schwierigkeiten mit zwei Kulturen aufzuwachsen, betrachte ich es als Geschenk. Wir denken komplexer, haben ein Gespür dafür, wann wir uns eher tamil oder deutsch verhalten und können intuitiv zwischen zwei oder drei Sprachen wechseln. Meine deutschen Freunde machen immer große Augen, wenn sie meine Telefongespräche mit der Familie mitbekommen oder sehen wie viele Currys es zum Mittagessen gab.

Du und ich – Wir sind die Zukunft und es liegt in unserer Hand die tamilische Kultur zu erhalten und zu verbreiten. Wir sind die Vermittler zwischen zwei Kulturen, aber auch verschiedener Generationen. Es ist toll zu sehen, welche Türen unsere Interkulturalität eröffnet hat und wie groß die Vielfalt an Vereinen, Musikrichtungen, Mode und Küche geworden ist. Wir laufen sonst die Gefahr sie zu verlieren und somit einen Teil unserer Identität, das wäre ein Verlust für alle. Schwer wiegt sie auf unserem Haupt, die Verantwortung, und begleiten wird sie uns über unsere Enkelkinder hinaus. Es wäre eine Freude, wenn du deinen Blick nach vorne, an den Horizont richten würdest. Komm, reich der Welt die Hand und lass uns schauen was die Zukunft bringt.

Disclaimer:
Die verfassten Beiträge in dieser Blogreihe werden, beruhend auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, verfasst. Die persönlichen Umstände und das persönliche Umfeld spielen dementsprechend eine große Rolle. Somit präsentieren die Artikel nur persönliche Ansichten und möglicherweise auch Lösungsansätze, die nicht auf alle übertragbar sind. Keinesfalls wollen wir implizieren, dass dies die einzig korrekte Sichtweise auf das entsprechende Thema ist oder jemanden damit angreifen. Wir sind dankbar für jedes Feedback und für jede Kritik und respektieren eure geäußerten Meinungen. Ihr könnt gerne eigene Beiträge verfassen und uns zukommen lassen, um auch eure Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.

Euer ITSA-Team

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