#13 Theoretische Überlegungen zu: „Ein Leben zwischen zwei Kulturen“

Anonym
26. Juni 2020, 11:52 MESZ aktualisiert am 26. Juni 2020, 11:52 MESZ

Was bedeutet es von einem Leben zwischen zwei Kulturen zu sprechen? Auf welchen Annahmen basiert dieser Satz? Was bedeutet diese Art des Denkens für den Alltag von Heranwach- senden mit tamilischem Migrationshintergrund?

Hinter dieser Ausdrucksweise steckt eine starre Vorstellung von grundsätzlich unterschiedlichen „Kulturen“ (wie immer sie auch verstanden werden), die nicht miteinan- der vereinbar sind. „Die tamilische Kultur“ versus „die deutsche Kultur“. Bildlich ausgedrückt: Äpfel versus Birnen. Kreise versus Rechtecke. Sie müs- sen aber nicht in jeden Fall zwingend in einem gegensätzlichen Verhältnis auftreten. Sie können auch additiv gedacht werden. Deutsch und tamilisch. Auch diese Vorstellung geht auf ähnliche Prämissen zurück. Demnach könnte eine Person, die sich auf diese Weise beschreibt oder beschrieben wird, Teile der jeweiligen „Kulturen“ herauspicken und sie in ihrer Person zusammenführen. Ausschlaggebend hierbei ist, dass diese einzelnen Teile bei der Zusammenführung in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben und keinerlei Veränderungen aufweisen. Es wird erwartet, dass die jeweils tamilischen sowie deutschen Teile in einer Person klar erkennbar sind. Ein Entstehen von etwas Neuem ist hier ausgeschlossen. Das Neue wäre nämlich nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Wie würde es bezeichnet werden? Wäre es tamilisch oder deutsch? Wäre es tamilisch und deutsch? Dieser Zwang Dinge kategorisieren und sie eindeutig beim Namen nennen zu müssen, hindert unseren Blick daran zu er- kennen, dass aus bereits bekannten Dingen etwas Neues entsteht bzw. sich im Prozess des Entstehens befindet. Jugendliche bzw. junge Erwachsene der 2. und darauffolgenden Generationen entwickeln aus den sie umgebenden Bedingungen neue Zugehörigkeiten und Identitätsmerkmale, die spezifisch für ihre Diasporasituation sind.

Gehen wir jedoch zunächst noch einmal einen Schritt zurück zu der Basis, auf der derartige Annahmen aufbauen. Was haben derart verstandene Kulturen, Äpfel und Birnen, Kreise und Rechtecke gemein? Sie gehen von klar voneinander trennbaren, eindeutig definierbaren, in sich geschlossenen, starren Entitäten aus. Weder historische Kontinuitäten, kontextspezifische Einflüsse noch Prozesshaftigkeit werden berücksichtigt. Es wird von einer naturgegebenen Existenz ausgegangen, die die sich durch stetigen Wandel ergebenden Folgen nicht benennt, geschweige denn (an-) erkennt. In zwei der drei genannten Vergleichsfällen trifft dies auch zu. Welche diese sind, habt Ihr wohlmöglich erraten.

Wenn wir also dieser Logik folgen, entsteht eine defizitäre Perspektive auf Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund, die sich durch ihr Dasein „zwischen zwei Kulturen“ mit Entfremdungserfahrungen sowie identitätsrelevanten Krisen konfrontiert sehen. Sie fühlen sich weder dort noch hier zu Hause. Sie sind weder diesem noch jenem Land loyal. Sie kennen sich weder in der einen noch anderen „Kultur“ aus. Sie stehen zwischen zwei Stühlen. Versteht mich nicht falsch. Ich möchte keineswegs behaupten, dass Heranwachsende nicht migrationsbedingte Herausforderungen bewältigen müssen. Das müssen sie sehr wohl. Sie können beizeiten sogar die Oberhand gewinnen im Prozess der Identitätsfindung. Jedoch lässt sich zwischen einem vermeintlichen Aufwachsen zwischen zwei „Kulturen“ und den genann- ten Herausforderungen kein monokausaler Zusammenhang herstellen – sprich sie lassen sich nicht nur darauf zurückführen. Dies führt zu einem verzerrten Bild der Realität. Da jedoch sowohl in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sowie in diasporischen Communities Vorstellungen von reduktionistischen Entweder-Oder-Identitäten gängig sind, ist es mein Anliegen in diesem Text, ein Umdenken anzustoßen.

Daher würde ich gerne mit Bezug auf die Migrationsforschung eine ressourcenorientierte Per- spektive propagieren. Und zwar haben wir von Kindesbeinen an gelernt in zwei oder sogar mehreren Bezugssystemen zu denken, zu handeln und uns zu orientieren. In dieser globalisierten Welt ist es ohne Frage eine Ressource, auf die wir zurückgreifen können. Unsere Zugehörigkeiten sind von komplexer Transnationalität als von einfacher Dualität zwischen tamilisch und deutsch oder von sich an nationalstaatlichen Grenzen orientierenden „Kulturen“ geprägt.

Ein eindrückliches Beispiel ist das sogenannte Codeswitching. So nennt man einen Sprachge- brauch, der sich in einer Konversation oder sogar einem Satz des Wortschatzes und der Gram- matik unterschiedlicher Sprachen bedient. Sprich wenn ich mich mit meinen Geschwistern auf Deutsch unterhalte und zwischendurch eine tamilische Redewendung einbaue oder deutsche Wörter mit einem tamilischen Satzbau verwende, spricht man von Codeswitching. Lange Zeit wurde von einer mangelhaften Beherrschung beider Sprachen ausgegangen. Speziell im Schulkontext wird dieses Sprechverhalten nach wie vor als problematisch angesehen – als Abweichung von der vorgegebenen Norm, obgleich es unter anderem einen Anknüpfungspunkt für die Förderung von Mehrsprachigkeit darstellen kann. Auch ich bin in dieser Hinsicht lange Zeit von einer problemzentrierten Perspektive ausgegangen. Doch mittlerweile bin ich der Ansicht, dass Codeswitching keine fehlerhafte Abweichung von der Norm, sondern Ausdruck von der oben genannten diasporabedingten Identität ist. Daher sollte sie als eine eigenständige Mög- lichkeit des Sprechens Beachtung finden.

Was bedeutet dieses ganze theoretische Gerede also? Sind wir nun deutsch? Tamilisch? Oder deutsch-tamilisch? Nichts von allem möchte ich behaupten. Wir sind ein Produkt des Zusammenspiels von gesellschaftlichen, politischen, sozialen, ökonomischen, familiären, freundschaftlichen und anderen beziehungstechnischen Verflechtungen, die von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägt sind, worunter die unserer Eltern sowie die unseres Wohnortes eine dominante Rolle spielen. Der Bezug zu diesen kulturellen Einflüssen sieht für jede Person anders aus.

Disclaimer:
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Euer ITSA-Team

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