#11 (Kein) Sex vor der Ehe

Anonymer Mann, Anonyme Frau
17. Juni 2020, 16:10 MESZ aktualisiert am 18. Juni 2020, 10:23 MESZ

Aus der Sicht eines Mannes:

 

Das Thema Beziehung ist bei den meisten Tamilen schon haarsträubend – aber was ist mit dem Thema Geschlechtsverkehr? Obwohl man in der tamilischen Gesellschaft – wie bei vielen anderen Tabuthemen – nicht darüber redet, und schon gar nicht mit den eigenen Eltern, ist es dennoch ein wichtiger Bestandteil einer Liebesbeziehung. Tamilische Kinder bekommen schon früh unterbewusst vermittelt, dass man erst nach der Hochzeit mit dem Thema Geschlechtsverkehr in Berührung kommen sollte. So lautet nun mal die tamilische Tradition und ein Verstoß dagegen wird von der tamilischen Gesellschaft geächtet. Nach der Eheschließung darf man sich austoben wie man möchte, aber davor ist es ein absolutes Tabu.

Bei Verlust der Jungfräulichkeit müssen Jungs keine langwierigen Konsequenzen fürchten. Die Mädels hingegen müssen schon mit schwerwiegenden, nachhaltigen Folgen rechnen. Genauso wie bei etlichen harmlosen und vollkommen normalen anderen Dingen – wie beispielsweise abends Ausgehen, Feiern, Arbeiten, Umziehen aufgrund eines Studiums – bei denen Jungs ungeschoren davonkommen, müssen die Mädchen sich davor fürchten, dafür bestraft zu werden, sich dem Spott der Gesellschafft auszusetzen oder sogar von den nächsten Menschen, den Freunden oder vertrautesten Familienmitgliedern, ausgeschlossen und verurteilt zu werden.

Die schlimmste aller Befürchtungen ist die, keinen Partner mehr finden zu können, sollte die aktuelle Beziehung scheitern. Fälschlicherweise geht man davon aus, dass man als etwas Niederwertiges gilt und urteilt womöglich sogar über andere Mädels, die einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit ihrem Partner haben. Dementsprechend ist die Hemmschwelle davor groß, mit seinem eigenen Partner einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zu haben. In der Folge redet man nicht offen über das Thema mit seinem Partner, und blockt sogar ab, wenn es zur Sprache kommt. In diesem Artikel möchte ich als Mann Frauen, welche die oben beschriebene Einstellung aufweisen, ermutigen, ihre Meinung zu überdenken und klarstellen, dass einvernehmlicher Geschlechtsverkehr mit seinem Partner das Normalste auf der Welt ist.

Wie bei vielen anderen Diasporathemen – wie dem Kastensystem – muss ein neuer Maßstab gesetzt werden. Oder besser gesagt, es müssen alte tamilischen Prinzipien, die die Freiheit eines Individuums einschränken, gebrochen werden. Wir sind in Deutschland aufgewachsen und werden schon früh in der Grundschule sexuell aufgeklärt, somit sind wir, zumindest auf diesem Themengebiet, unseren Eltern voraus.

Mit dem Beginn der Pubertät steigt auch das Interesse für das andere oder dasselbe Geschlecht und man lernt seinen Körper neu zu erkunden. Die Deutschen führen zu dieser Zeit oft auch ihre erste Beziehung oder haben sogar schon Geschlechtsverkehr. Es gehört bei ihnen zum Erwachsenwerden dazu.

Normalerweise führen Tamilen in Deutschland erst viel später (mit ca. 20 Jahren) ihre erste richtige Liebesbeziehung. In der Regel werden diese Beziehungen wohlüberlegt eingegangen und nicht auf die leichte Schulter genommen. Im Idealfall hofft man, dass die Beziehung ein Leben lang hält.

Für Frauen, die diesen Schritt gehen, gehört es zum Grundsatz dazu, eigene Entscheidungen im Leben zu treffen, insbesondere bei der Partnerwahl. Ganz nach dem Vorbild der Deutschen. Schließlich ist man in Deutschland aufgewachsen und weiß, dass man sein Leben selbst bestimmen kann.

Nachdem die Frauen nun die Liebe ihres Lebens gefunden haben, bewahren manche von ihnen trotzdem eine gewisse körperliche Distanz zu ihrem Partner und vermeiden intimen Kontakt.

Gilt für sie beim Thema Geschlechtsverkehr dann wieder die tamilische Norm und nicht mehr die Deutsche?

In einer Beziehung ist es vollkommen in Ordnung sich körperlich näher zu kommen, dazu gehören auch Dinge wie das Küssen, Kuscheln und der Geschlechtsverkehr. Mit der Wahl seines Partners hat man schon bewiesen, dass man reif genug ist, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Wieso dann nicht auch beim Thema Geschlechtsverkehr? Wieso schränkt man seine eigenen Freiheiten ein und verzichtet auf den Spaß, die Lust, die Intimität und vor allem die Lebenserfahrung mit seinem Lebenspartner, und wartet stattdessen 5 Jahre bis zur Heirat? Liebt man seinen Lebenspartner nach der Hochzeit plötzlich mehr als davor?

Die Liebe zum Partner sollte in der Regel vor und nach der Trauung gleich sein, da die Eheschließung nur ein formeller Aspekt für die zwischenmenschliche Liebesbeziehung ist.

Wenn man sich Gedanken darüber macht, dass die aktuelle Beziehung im schlimmsten Fall scheitern könnte und man durch das Verzichten auf Geschlechtsverkehr noch bessere Karten hat, um seinen nächsten Partner zu finden, ist es nicht nachvollziehbar für mich. Ein Mann, der eine Frau wirklich liebt, wird sie nicht verurteilen, nur weil sie mit ihrer vermeintlichen Liebe des Lebens intim geworden ist und keine Jungfrau mehr ist, sondern sie so nehmen, wie sie ist, mit allen Ecken und Kanten. Vor allem in Deutschland sollte es keinen Mann verwundern, wenn man auf eine Frau trifft, die keine Jungfrau mehr ist. Sie verdient es exakt so wertgeschätzt zu werden wie eine Jungfrau. Männer, die selbst schon Geschlechtsverkehr hatten, sich aber eine Jungfrau wünschen, haben kein Recht zu dieser Äußerung und man sollte seine Beziehung zu so einem Menschen überdenken.

Wenn es nur darum geht, dass man allgemein Angst vor dem Intimwerden oder Schuldgefühle vor seinen Eltern hat – abgesehen von den gesellschaftlichen Problemen – und deshalb auf Geschlechtsverkehr verzichtet, kann ganz einfach mit seinem Partner darüber sprechen. Dieser sollte in der Lage sein, die Ängste zu nehmen und das Gefühl an Wertschätzung zu geben.

Nachdem man es gemacht hat, ist Geschlechtsverkehr am Ende nur eine von etlichen Sachen, die zu einer Liebesbeziehung gehören und man merkt, dass es keine so schlimme Sache ist, wie man am Anfang vielleicht gedacht hat. Man wird es definitiv bereuen, dass man es nicht bereits vorher gemacht hat.

Ich will hiermit keinen dazu ermutigen, frühzeitig und ungewollt Geschlechtsverkehr zu haben oder sich zu etwas zu zwingen, was man nicht machen möchte, jedoch möchte ich dazu ermutigen, seine eigene Meinung zu diesem Thema zu hinterfragen, sich darüber zu informieren und es nicht direkt zu verurteilen, weil es nicht den moralischen Werten der Tamilen entspricht. Diese Situation sollte sich definitiv ändern. Natürliche, zwischenmenschliche Interaktionen sollten kein Tabuthema mehr sein. Es ist eine Sache, die nur zwei Menschen etwas angeht, euch und euren Partner. Niemand hat das Recht darüber zu urteilen! Es geht niemanden was an, was zwei Menschen einvernehmlich miteinander machen!

Nachtrag: Einvernehmlichen Geschlechtsverkehr oder intime Zuneigung darf man natürlich mit jeder Person haben, auch wenn es sich nicht  um die „Liebe des Lebens“ handelt, beispielsweise auch, wenn man sich gerade erst kennenlernt. In diesem Artikel wurde sich viel mehr auf Paare ohne Geschlechtsverkehr konzentriert.

Aus der Sicht einer Frau:


Zuhause die konservativen Eltern, in der Schule die deutschen Freunde mit allen Freiheiten – und mittendrin bin ich.
Konfrontiert wurde ich mit dem Thema bereits in der Schulzeit, als meine erste Freundin von ihrem ersten Mal mit nicht mal 13 Jahren erzählt hat. Ab da wurde das Thema immer häufiger in der Schule besprochen und aufgrund meiner Kultur wurde ich auch des Öfteren gefragt, ob ich mich für die Ehe aufspare. „Es kommt wie es kommt“ war stets meineAntwort. Als Mädchen mit überwiegend deutschen Freunden in der Jugend war es für mich nie ein Tabu-Thema. Sex wird immer als etwas schlimmes dargestellt, obwohl es das Natürlichste der Welt ist.

Das Schlimme daran ist aber, dass bei dem Thema so stark nach Geschlecht unterschieden wird. Warum ist es so, dass Männer einfach schlafen können mit wem sie wollen und Frauen nicht? Frauen verlieren scheinbar an Wert, wenn sie keine Jungfrau mehr sind, aber warum? An alle Frauen, die nicht bis zur Ehe gewartet haben: lasst euch niemals einreden, ihr wärt jetzt weniger wert oder „verschmutzt“ oder sonst was. Den Wert einer Frau sollte man nicht an ihrer Jungfräulichkeit messen. Wovor haben die Männer (natürlich nur die, die diese Erwartungshaltung haben) denn so Angst? Dass ihr nicht gut genug seid? Dass eure Frauen euch für einen erfahreneren Mann verlassen? Wenn man sich wirklich liebt, sollte das alles kein Thema sein. Natürlich ist es erstmal nicht erfreulich, wenn man sich kennenlernt und dann erfährt, dass die Person bereits mit einer anderen Person so intim geworden ist, aber das sollte niemals ein Argument gegen eine Beziehung sein. Lasst die Vergangenheit hinter euch und fokussiert euch auf eine schönere, gemeinsame Zukunft.

Und wenn man sich liebt und es möchte, warum sollte man es dann nicht tun? Warum dann noch so lange bis zur Hochzeit warten? Wenn es sich richtig anfühlt und man sich bereit fühlt, spricht doch eigentlich nichts dagegen, oder was denkt ihr? Man kann es halt seinen Eltern nicht erzählen, aber das würde wahrscheinlich auch niemand nach der Hochzeit tun. Es ist nochmal eine ganz andere Ebene des Vertrauens, aber wenn man heiratet, will man seinen Partner doch eigentlich zu 100% kennen, oder nicht?

An die, die warten wollen: bleibt euch selber treu und gebt eure Prinzipien nicht auf, nur damit ihr „dazugehört“ oder „mitreden“ könnt, denn es ist etwas zu Besonderes, um es einfach nur „hinter sich zu bringen“. Ich habe Freunde, die es getan haben, nur damit sie mitreden können, wenn das Thema wieder präsent ist. Aber lohnt sich das? Lohnt es sich, so etwas intimes mit irgendeiner x-beliebigen Person zu machen, nur damit man bei einem Thema mitreden kann? Ist das Gefühl, so etwas verschwendet zu haben nicht schlimmer, als sich bei einem Gespräch ausgeschlossen zu fühlen? Also lasst euch niemals zu etwas zwingen oder überreden, für das ihr eigentlich noch gar nicht bereit seid. Denn wenn ihr nicht bereit seid, wird es auch nicht funktionieren. Glaubt mir, euer Körper stellt sich quer und das heißt nicht, dass irgendetwas nicht mit euch stimmt, sondern einfach nur, dass ihr noch nicht bereit seid und das ist völlig in Ordnung! Darüber wird viel zu wenig gesprochen, aber ob ihr es glaubt oder nicht, die Mehrheit der tamilischen Mädels, die ich kenne, hatten Probleme beim ersten Mal und haben sich ziemlich verrückt gemacht. Fakt ist aber, dass es total normal ist. Nehmt euch einfach mehr Zeit und stresst euch nicht.

Das Warten hat auch etwas Schönes, etwas worauf man sich freuen kann. Vor allem unterscheidet es dann die Ehe von vorherigen Beziehungen. Viele fühlen sich vorher einfach nicht bereit und haben ein unwohles Gefühl ihren Eltern gegenüber oder einfach panische Angst vor einer ungeplanten Schwangerschaft. Auch das ist total verständlich, also lasst euch nichts von anderen einreden. Ihr selbst entscheidet wann der richtige Zeitpunkt dafür ist.

Was ich hier aber gerade bei Tamilen/Türken etc. sehr kritisch finde, ist die sogenannte „Hochzeitsnacht“. Plötzlich mischen sich alle in deine Beziehung ein, obwohl es so ein privates Thema ist. Aber was ist, wenn man in der besagten Nacht einfach nicht möchte? Keine Lust hat oder müde ist? Es muss einen ja enorm unter Druck setzen, zu wissen, dassman in dieser Nacht „funktionieren“ muss, weil nicht nur der Partner, sondern alle das von einem erwarten, aber das könnte dann ja auch in einer Vergewaltigung enden oder nicht? Auch in Ehen spricht man bei nicht einvernehmlichem Sex von Vergewaltigung. Daher finde ich das Thema „Hochzeitsnacht“ sehr kritisch. Wie steht ihr zu diesem Thema?

Wie ihr seht ist es wirklich ein schwieriges Thema, was ziemlich schade ist, weil es eben kein schwieriges Thema sein muss. Ich kann beide Seiten verstehen und respektiere sie auch – genau das sollte jeder tun: Leben und leben lassen. Das Wichtigste ist, dass ihr glücklich seid mit euren Entscheidungen. Redet einfach mit eurem Partner offen über das Thema und teilt alle eure Gedanken dazu mit, denn letztendlich ist es etwas, was nur euch zwei betrifft und nicht den Rest der Welt. Ihr müsst niemandem etwas beweisen und das ist auch gut so.

Disclaimer:
Die verfassten Beiträge in dieser Blogreihe werden, beruhend auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, verfasst. Die persönlichen Umstände und das persönliche Umfeld spielen dementsprechend eine große Rolle. Somit präsentieren die Artikel nur persönliche Ansichten und möglicherweise auch Lösungsansätze, die nicht auf alle übertragbar sind. Keinesfalls wollen wir implizieren, dass dies die einzig korrekte Sichtweise auf das entsprechende Thema ist oder jemanden damit angreifen. Wir sind dankbar für jedes Feedback und für jede Kritik und respektieren eure geäußerten Meinungen. Ihr könnt gerne eigene Beiträge verfassen und uns zukommen lassen, um auch eure Sichtweisen und Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.

Euer ITSA-Team

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